(Kiel) Der u.a. für das Ver­sicherungsver­tragsrecht zuständi­ge IV. Zivilse­n­at des Bun­des­gericht­shofs hat über einen Fall entsch­ieden, in dem Ver­sicherungsnehmer unrichtig über die Form ihrer Wider­spruch­serk­lärung informiert wor­den waren. 

Der Sen­at hat in diesem Fall angenom­men, dass ein Bere­icherungsanspruch jeden­falls nach § 242 BGB wegen rechtsmiss­bräuch­lich­er Ausübung des Wider­spruch­srechts gemäß § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG in der sein­erzeit gülti­gen Fas­sung (nach­fol­gend: a.F.) aus­geschlossen ist, weil den Ver­sicherungsnehmern durch den im Stre­it­fall ger­ingfügi­gen Belehrungs­fehler nicht die Möglichkeit genom­men wor­den ist, ihr Wider­spruch­srecht im Wesentlichen unter densel­ben Bedin­gun­gen wie bei zutr­e­f­fend­er Belehrung auszuüben.

Darauf ver­weist die Gießen­er Fachan­wältin für Ver­sicherungsrecht Kat­ja Knabel von der DASV Deutsche Anwalts- und Steuer­ber­ater­vere­ini­gung für die mit­tel­ständis­che Wirtschaft e. V. in Kiel unter Hin­weis auf das Urteil des Bun­des­gericht­shofs (BGH) vom 15. Feb­ru­ar 2023 – IV ZR 353/21.

  • Sachver­halt und Prozessverlauf: 

Die Klägerin machte aus behauptet abge­treten­em Recht Ansprüche auf bere­icherungsrechtliche Rück­ab­wick­lung fonds­ge­bun­den­er Lebens- und Renten­ver­sicherungsverträge gel­tend. Diese Verträge wur­den zwis­chen den jew­eili­gen Ver­sicherungsnehmern und der Beklagten mit Ver­sicherungs­be­ginn zum 1. Novem­ber und 1. Dezem­ber 2002 nach dem soge­nan­nten Poli­cen­mod­ell des § 5a VVG a.F. abgeschlossen. Die Ver­sicherungsnehmer kündigten die Verträge 2016 und 2017 und erk­lärten jew­eils 2018 den Wider­spruch nach § 5a VVG a.F.

Die Vorin­stanzen haben die Klage abgewiesen. Nach Auf­fas­sung des Beru­fungs­gerichts ste­ht der Gel­tend­machung des Rück­ab­wick­lungsanspruchs der Grund­satz von Treu und Glauben ent­ge­gen. Ein vor­rangiges schutzwürdi­ges Ver­trauen des Ver­sicher­ers in den Fortbe­stand des Ver­trags komme in Betra­cht, wenn Umstände vor­lä­gen, die den Schluss darauf zuließen, dass der Ver­sicherungsnehmer auch in Ken­nt­nis seines Lösungsrechts vom Ver­trag an diesem fest­ge­hal­ten hätte. Dies sei hier der Fall. Der Fehler der Belehrung über die einzuhal­tende Schrift­form anstelle der aus­re­ichen­den Textform für die Wider­spruch­serk­lärung könne die Ver­sicherungsnehmer nicht ern­sthaft von der Ausübung des Wider­spruch­srechts inner­halb der bei ord­nungs­gemäßer Belehrung gel­tenden Frist abge­hal­ten haben.

Hierge­gen richtet sich die Revi­sion der Klägerin.

  • Die Entschei­dung des Senats: 

Der Bun­des­gericht­shof hat entsch­ieden, dass die Ausübung des Wider­spruch­srechts gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) ver­stößt, wenn ein ger­ingfügiger Belehrungs­fehler vor­liegt, durch den dem Ver­sicherungsnehmer nicht die Möglichkeit genom­men wird, sein Wider­spruch­srecht im Wesentlichen unter densel­ben Bedin­gun­gen wie bei zutr­e­f­fend­er Belehrung auszuüben. Denn dies stellt eine nur ger­ingfügige, im Ergeb­nis fol­gen­lose Ver­let­zung der Pflicht des Ver­sicher­ers zur ord­nungs­gemäßen Belehrung dar. Rechts­fehler­frei hat das Beru­fungs­gericht dies für den hier zu beurteilen­den Fall angenom­men, in dem den Ver­sicherungsnehmern die unrichtige Infor­ma­tion über ein Recht zum schriftlichen Wider­spruch erteilt wurde, obwohl nach § 5a Abs. 1 Satz 1 VVG in der ab 1. August 2001 gülti­gen Fas­sung ein Wider­spruch in Textform genügte.

Die Annahme ein­er rechtsmiss­bräuch­lichen Ausübung des Wider­spruch­srechts in diesem Fall ste­ht auch in Ein­klang mit der Recht­sprechung des Gericht­shofs der Europäis­chen Union (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezem­ber 2019, Rust-Hack­n­er u.a., C‑355/18 bis C‑357/18 und C‑479/18, EU: C:2019:1123 = NJW 2020, 667), sodass eine Vor­lage an diesen nicht ver­an­lasst war. Dass der Gericht­shof hier­von mit seinem Urteil vom 9. Sep­tem­ber 2021 (Volk­swa­gen Bank u.a., C‑33/20, C‑155/20 und C‑187/20, EU:C:2021:736 = NJW 2022, 40) abwe­ichen wollte, ist nicht ersichtlich. Diese Entschei­dung bezieht sich auf Fälle, in denen eine der in Art. 10 Abs. 2 der Richtlin­ie 2008/48/EG des Europäis­chen Par­la­ments und des Rates vom 23. April 2008 über Ver­braucherkred­itverträge und zur Aufhe­bung der Richtlin­ie 87/102/EWG des Rates (ABl. L 133 S. 66) vorge­se­henen zwin­gen­den Angaben fehlt. Insoweit äußert sich der Gericht­shof zu der von ihm im Ver­sicherungsver­tragsrecht vorgenomme­nen Dif­feren­zierung nach der Bedeu­tung des Belehrungs­man­gels nicht.

Die Frage, ob das Poli­cen­mod­ell mit den Lebensver­sicherungsrichtlin­ien der Europäis­chen Union unvere­in­bar ist, war fern­er nicht entschei­dungser­he­blich. Auch im Fall ein­er unter­stell­ten Union­swidrigkeit des Poli­cen­mod­ells ist es dem — im Wesentlichen — ord­nungs­gemäß belehrten Ver­sicherungsnehmer, der sich aus den genan­nten Grün­den nicht auf die ger­ingfügige Fehler­haftigkeit der Belehrung berufen kann, nach Treu und Glauben wegen wider­sprüch­lich­er Recht­sausübung ver­wehrt, sich nach jahre­langer Durch­führung des Ver­trages auf dessen ange­bliche Unwirk­samkeit zu berufen und daraus Bere­icherungsansprüche herzuleiten.

Zum Ein­wand von Treu und Glauben war eine Vor­lage an den Gericht­shof der Europäis­chen Union eben­falls nicht erforder­lich. Die Maßstäbe für dessen Berück­sich­ti­gung sind in der Recht­sprechung des Gericht­shofs gek­lärt und die Annahme rechtsmiss­bräuch­lichen Ver­hal­tens ste­ht in Fällen wie dem vor­liegen­den damit in Ein­klang. Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Aus­führun­gen des Gericht­shofs der Europäis­chen Union zum union­srechtlichen Grund­satz des Rechtsmiss­brauchs in dessen Entschei­dung vom 9. Sep­tem­ber 2021 (Volk­swa­gen Bank u.a. aaO). Für den Bere­ich der Lebensver­sicherun­gen hat der Gericht­shof fest­gestellt, dass die Mit­glied­staat­en die Modal­itäten der Ausübung des Rück­trittsrechts und der Mit­teilung von Infor­ma­tio­nen, ins­beson­dere zur Ausübung dieses Rechts, im Einzel­nen regeln kön­nen. Das gilt sowohl für die Zweite und Dritte Richtlin­ie Lebensver­sicherung als auch für die Richtlin­ien 2002/83/EG und die Solv­abil­ität II-Richtlin­ie. Dabei müssen die Mit­glied­staat­en dafür sor­gen, dass die prak­tis­che Wirk­samkeit der Richtlin­ien gewährleis­tet ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezem­ber 2019, Rust-Hack­n­er u.a. aaO). Diese Recht­sprechung hat der Gericht­shof im Anschluss an seine Entschei­dung vom 9. Sep­tem­ber 2021 (Volk­swa­gen Bank u.a. aaO) für die Rechts­fol­gen der Nichter­fül­lung oder der nicht ord­nungs­gemäßen Erfül­lung der in den Richtlin­ien vorge­se­henen vorver­traglichen Mit­teilungspflicht sowie in Bezug auf das dort niedergelegte Recht des Ver­sicherungsnehmers auf Rück­tritt vom Ver­sicherungsver­trag bestätigt (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Feb­ru­ar 2022, A u.a. [Unit-Linked-Ver­sicherungsverträge], C‑143/20 und C‑213/20, EU:C:2022:118 = NJW 2022, 1513 zur Richtlin­ie 2002/83/EG). Damit kommt es auf den all­ge­meinen Grund­satz des Union­srechts zum Rechtsmiss­brauch und dessen Voraus­set­zun­gen hier nicht an, son­dern im Bere­ich der Lebensver­sicherungsrichtlin­ien ist ein Rück­griff auf den nationalen Grund­satz von Treu und Glauben nach § 242 BGB zuläs­sig, soweit die prak­tis­che Wirk­samkeit der Richtlin­ien – wie hier — nicht beein­trächtigt wird.

Recht­san­wältin Knabel emp­fahl, dies zu beacht­en und bei Fra­gen auf jeden Fall Recht­srat einzu­holen, wobei sie in diesem Zusam­men­hang u. a. auch auf die DASV Deutsche Anwalts- und Steuer­ber­ater­vere­ini­gung für die mit­tel­ständis­che Wirtschaft e. V. – www.mittelstands-anwaelte.de  — verwies.

 

Für Rück­fra­gen ste­ht Ihnen zur Verfügung:

Kat­ja Knabel

Recht­san­wältin, Fachan­wältin für Han­dels- und Gesellschaft­srecht, Fachan­wältin für Versicherungsrecht

Neuen­weg 9
35390 Gießen

Tele­fon:  (0641) 39 999 46

Tele­fax:  (0641) 39 999 47

E‑Mail:  kanzlei@ra-knabel.de

https://www.ra-knabel.de/