BGH, Beschluss vom 28.02.2022, AZ VIa ZR 8/21 und VIa ZR 57/21

Aus­gabe: 01/02–2022

Der vom Prä­sid­i­um des Bun­des­gericht­shofs vorüberge­hend als Hil­f­sspruchkör­p­er ein­gerichtete VIa. Zivilse­n­at (vgl. Pressemit­teilung Nr. 141/2021 vom 22.07.2021) hat am 21.02.2022 entsch­ieden, dass Käufern von vom soge­nan­nten Diesel­skan­dal betrof­fe­nen Neuwa­gen, deren Anspruch nach § 826 BGB ver­jährt ist, ein Anspruch gegen den Her­steller aus § 852 Satz 1 BGB zusteht. 

Sachver­halt:

In bei­den Ver­fahren nehmen die Kläger die beklagte Volk­swa­gen AG auf Schadenser­satz nach Erwerb eines Kraft­fahrzeugs in Anspruch. 

Der Kläger im Ver­fahren VIa ZR 8/21 erwarb im April 2013 zu einem Kauf­preis von 30.213,79 € einen Neuwa­gen VW Golf Cabrio “Life” TDI von der Beklagten als Her­stel­lerin, der mit einem Diesel­mo­tor der Bau­rei­he EA 189 verse­hen war. Das Fahrzeug war bei Erwerb mit ein­er Soft­ware aus­ges­tat­tet, die erkan­nte, ob es sich auf einem Prüf­s­tand befand, und in diesem Fall vom reg­ulären Abgas­rück­führungsmodus in einen Stick­ox­id-opti­mierten Modus wechselte. 

Die Klägerin im Ver­fahren VIa ZR 57/21 erwarb im Juli 2012 zu einem Kauf­preis von 36.189 € einen von der Beklagten hergestell­ten Neuwa­gen VW EOS 2.0 l TDI von einem Händler. Dieser Neuwa­gen war eben­falls mit einem Diesel­mo­tor der Bau­rei­he EA 189 verse­hen. Das Fahrzeug war wiederum bei Erwerb mit ein­er Soft­ware aus­ges­tat­tet, die erkan­nte, ob es sich auf einem Prüf­s­tand befand, und in diesem Fall vom reg­ulären Abgas­rück­führungsmodus in einen Stick­ox­id-opti­mierten Modus wechselte. 

Ab Sep­tem­ber 2015 wurde — aus­ge­hend von ein­er Pressemit­teilung der Beklagten vom 22. Sep­tem­ber 2015 — über den soge­nan­nten Abgasskan­dal betr­e­f­fend Motoren des Typs EA 189 in den Medi­en berichtet. Bei­de Kläger ließen ein von der Beklagten entwick­eltes Soft­ware-Update aufspielen. 

Bish­eriger Prozessverlauf: 

Das Landgericht hat auf die im Jahr 2020 erhobene Klage im Ver­fahren VIa ZR 8/21 die Beklagte wegen ein­er sit­ten­widrig vorsät­zlichen Schädi­gung des Klägers unter Anrech­nung ein­er Nutzungsentschädi­gung und Zug um Zug gegen Rück­gabe des Fahrzeugs zur Rück­zahlung des Kauf­preis­es neb­st Zin­sen und zur Erstat­tung vorg­erichtlich ver­aus­lagter Anwalt­skosten verurteilt. Die weit­erge­hende Klage auf Fest­stel­lung des Annah­mev­erzugs der Beklagten hat das Landgericht abgewiesen. 

Auf die Beru­fung der Beklagten hat das Ober­lan­des­gericht die vom Landgericht zuge­sproch­enen Klageanträge abgewiesen und die Anschluss­beru­fung des Klägers, mit der er seinen Antrag auf Fest­stel­lung des Annah­mev­erzugs der Beklagten weit­er­ver­fol­gt hat, zurück­gewiesen. Zur Begrün­dung hat das Ober­lan­des­gericht ausgeführt: 

Zwar beste­he dem Grunde nach ein Anspruch des Klägers nach § 826 BGB gegen die Beklagte. Dieser Anspruch sei indessen ver­jährt. Wenn der Kläger im Jahr 2015 keine Ken­nt­nis von der Betrof­fen­heit seines Fahrzeugs vom soge­nan­nten Diesel­skan­dal erlangt habe, habe seine Unken­nt­nis auf grober Fahrläs­sigkeit beruht. Ihm sei eine Klage gegen die Beklagte auch zumut­bar gewe­sen. Die Beklagte dürfe sich in zweit­er Instanz auf die Einrede der Ver­jährung berufen, obwohl sie in der ersten Instanz in der mündlichen Ver­hand­lung vor dem Landgericht die Einrede der Ver­jährung zunächst fall­en gelassen habe. 

Einen (unver­jährten) Anspruch auf Gewährung von Restschadenser­satz nach § 852 Satz 1 BGB könne der Kläger gegen die Beklagte nicht gel­tend machen. Zwar habe der Kläger das Fahrzeug als Neuwa­gen direkt von der Beklagten erwor­ben. Der Schutzz­weck des § 852 Satz 1 BGB sei indessen zugun­sten des Klägers nicht eröffnet. Die Vorschrift set­ze voraus, dass dem Geschädigten eine Rechtsver­fol­gung vor Ver­jährung des Anspruchs aus § 826 BGB erschw­ert oder unmöglich gewe­sen sei. Dies sei hier nicht der Fall gewe­sen, zumal der Kläger Ansprüche in einem Muster­fest­stel­lungsver­fahren habe anmelden kön­nen. Man­gels des Beste­hens eines Schadenser­satzanspruchs schei­de die Fest­stel­lung des Annah­mev­erzugs aus. 

Das Beru­fungs­gericht hat die Revi­sion “hin­sichtlich des Her­aus­gabeanspruchs nach Ein­tritt der Ver­jährung gemäß § 852 BGB” zuge­lassen. Mit sein­er Revi­sion hat der Kläger, der eine wirk­same Zulas­sungs­beschränkung in Zweifel gezo­gen hat, sein Klage­begehren im Umfang der zulet­zt gestell­ten Anträge weiterverfolgt. 

Im Ver­fahren VIa ZR 57/21 hat das Landgericht die im Jahr 2020 erhobene Klage auf Rück­zahlung des Kauf­preis­es und Erstat­tung von Finanzierungskosten abzüglich ein­er Nutzungsentschädi­gung Zug um Zug gegen Über­las­sung des Fahrzeugs, auf Fest­stel­lung des Annah­mev­erzugs und auf Erstat­tung vorg­erichtlich ver­aus­lagter Anwalt­skosten abgewiesen. 

Die dage­gen gerichtete Beru­fung hat das Ober­lan­des­gericht zurück­gewiesen. Zur Begrün­dung hat es ausgeführt: 

Zwar lägen die Voraus­set­zun­gen eines Schadenser­satzanspruchs nach § 826 BGB vor. Dieser Anspruch sei jedoch mit Ablauf des 31. Dezem­ber 2019 ver­jährt, weil die Klägerin im Feb­ru­ar 2016 auf­grund eines Infor­ma­tion­ss­chreibens der Beklagten Ken­nt­nis nicht nur von dem “soge­nan­nten Diesel- oder Abgasskan­dal all­ge­mein”, son­dern auch von der indi­vidu­ellen Betrof­fen­heit ihres Fahrzeugs erlangt habe und ihr ab dem Jahr 2016 eine Klage gegen die Beklagte zumut­bar gewe­sen sei. Die Beklagte habe sich auf die Einrede der Ver­jährung berufen und berufen dür­fen, ohne dass ihr ein Ver­stoß gegen Treu und Glauben zur Last falle. 

Der Klägerin ste­he nach Ein­tritt der Ver­jährung des Anspruchs aus § 826 BGB kein Anspruch auf “Restschadenser­satz” aus § 852 BGB zu. Zwar sei § 852 BGB grund­sät­zlich auch dann anwend­bar, wenn der Geschädigte schon vor Ein­tritt der Ver­jährung in der Lage gewe­sen sei, seinen Schadenser­satzanspruch gerichtlich gel­tend zu machen. Die Klägerin habe indessen trotz eines entsprechen­den Hin­weis­es bis zum Schluss der mündlichen Ver­hand­lung in der Beru­fungsin­stanz keine Angaben zu dem von der Beklagten aus dem Verkauf des Fahrzeugs an den Händler erziel­ten Gewinn gemacht. 

Das Beru­fungs­gericht hat die Revi­sion “in Anbe­tra­cht der divergieren­den oberg­erichtlichen Recht­sprechung zum Umfang des im Fall des Neuwa­genkaufs über einen Ver­tragshändler im Sinne des § 852 Satz 1 BGB Erlangten” zuge­lassen. Mit ihrer Revi­sion hat die Klägerin, die eine wirk­same Zulas­sungs­beschränkung in Zweifel gezo­gen hat, ihr Klage­begehren weiterverfolgt. 

Die Entschei­dung des Bundesgerichtshofs: 

Der VIa. Zivilse­n­at hat in bei­den Ver­fahren auf die Revi­sio­nen der Kläger die Beru­fung­surteile insoweit aufge­hoben, als die Beru­fungs­gerichte einen Anspruch auf Schadenser­satz auf der Grund­lage des von den Klägern ver­aus­lagten Kauf­preis­es verneint und den Anträ­gen auf Fest­stel­lung des Annah­mev­erzugs nicht entsprochen haben. Soweit die Kläger Ersatz vorg­erichtlich ver­aus­lagter Anwalt­skosten begehrt haben, hat der VIa. Zivilse­n­at die klage­ab­weisenden Entschei­dun­gen bestätigt. Das galt in der Sache VIa ZR 57/21 auch, soweit die Klägerin dort Ersatz der von ihr aufge­wandten Finanzierungskosten beansprucht hat. Dabei waren fol­gende Erwä­gun­gen für die Entschei­dun­gen leitend: 

Der VIa. Zivilse­n­at ist davon aus­ge­gan­gen, die Revi­sion könne nicht wirk­sam auf die Frage des Beste­hens eines Anspruchs aus § 852 Satz 1 BGB beschränkt wer­den. Vielmehr sei in bei­den Ver­fahren nicht nur zu über­prüfen, ob die Beru­fungs­gerichte einen Anspruch aus § 852 Satz 1 BGB rechts­fehler­frei verneint hät­ten, son­dern vor­rangig auch, ob ihre Über­legun­gen zu ein­er Ver­jährung des Anspruchs aus § 826 BGB zuträfen. 

Im Ver­fahren VIa ZR 57/21 war von ein­er Ver­jährung des Anspruchs aus § 826 BGB schon deshalb auszuge­hen, weil die Klägerin im Jahr 2016 über die konkrete Betrof­fen­heit ihres Fahrzeugs durch ein Schreiben unter­richtet wor­den war und ein Soft­ware-Update hat­te auf­spie­len lassen. Im Ver­fahren VIa ZR 8/21 hat sich der VIa. Zivilse­n­at der Auf­fas­sung des VII. Zivilse­n­ats angeschlossen, den Kläger habe jeden­falls ab dem Jahr 2016 jeden­falls der Vor­wurf grob fahrläs­siger Unken­nt­nis von der Betrof­fen­heit seines Fahrzeugs vom soge­nan­nten Diesel­skan­dal getrof­fen (vgl. Pressemit­teilung Nr. 18/2022). Da bei­den Klägern die Klageer­he­bung noch im Jahr 2016 zumut­bar gewe­sen sei, habe die drei­jährige Ver­jährung des Anspruchs aus § 826 BGB mit dem Schluss des Jahres 2016 begonnen und sei am 31. Dezem­ber 2019 abge­laufen, so dass sie durch die Erhe­bung der Kla­gen im Jahr 2020 nicht mehr wirk­sam habe gehemmt wer­den können. 

Der VIa. Zivilse­n­at hat weit­er entsch­ieden, dass sich die Beklagte auch im Ver­fahren VIa ZR 8/21 auf die Einrede der Ver­jährung des Anspruchs aus § 826 BGB berufen könne, obwohl sie auf diese Einrede in erster Instanz “verzichtet” habe. Diesen Verzicht habe das Beru­fungs­gericht zutr­e­f­fend nicht als endgülti­gen materiell-rechtlichen Verzicht gew­ertet. Richtig hät­ten bei­de Beru­fungs­gerichte auch entsch­ieden, dass es der Beklagten nach Treu und Glauben nicht ver­wehrt sei, sich auf die Einrede der Ver­jährung zu berufen. 

Nach Ver­jährung des Anspruchs aus § 826 BGB ste­he den Klägern in bei­den Ver­fahren aber ein Anspruch auf Restschadenser­satz nach § 852 Satz 1 BGB zu. Dieser Anspruch beste­he ohne Rück­sicht darauf, dass die Beklagte auch vor Ablauf der Ver­jährung ohne Schwierigkeit­en als Schädi­gerin hätte in Anspruch genom­men wer­den kön­nen. Der Gel­tend­machung eines Anspruchs aus § 852 Satz 1 BGB ste­he auch nicht ent­ge­gen, dass sich die Kläger nicht an einem Muster­fest­stel­lungsver­fahren gegen die Beklagte beteiligt hätten. 

Nach § 852 Satz 1 BGB müsse die Beklagte, die die Kläger durch das Inverkehrbrin­gen des Fahrzeugs geschädigt habe, das von ihr Erlangte her­aus­geben. Erlangt habe die Beklagte im Ver­fahren VIa ZR 8/21 zunächst einen Anspruch gegen den Kläger aus dem Kaufver­trag. Nach Erfül­lung der Forderung aus dem Kaufver­trag durch den Kläger habe die Beklagte als Ersatz im Sinne des § 818 Abs. 1 Halb­satz 2 BGB den Kauf­preis erlangt. Im Ver­fahren VIa ZR 57/21 habe die Beklagte eine Forderung gegen den Händler aus Kaufver­trag erlangt. Ihre Bere­icherung set­ze sich nach Erfül­lung dieser Forderung am Händlereinkauf­spreis fort, der geringer war als der von der Klägerin später gezahlte Kauf­preis und dessen Höhe zwis­chen den Parteien im konkreten Fall nicht in Stre­it stand. Nicht “erlangt” habe die Beklagte dage­gen Leis­tun­gen an die von den Klägern vorg­erichtlich man­datierten Recht­san­wälte und von der Klägerin im Ver­fahren VIa ZR 57/21 ver­aus­lagte Finanzierungskosten, so dass sich der Anspruch aus § 852 Satz 1 BGB — anders als der ver­jährte Anspruch aus § 826 BGB — nicht auf solche Schä­den erstrecke. 

Von dem erlangten Kauf­preis (VIa ZR 8/21) bzw. Händlereinkauf­spreis (VIa ZR 57/21) könne die Beklagte Her­stel­lungs- und Bere­it­stel­lungskosten nach § 818 Abs. 3 BGB nicht abziehen, weil sie sich im Sinne der § 818 Abs. 4, § 819 BGB bös­gläu­big bere­ichert habe. Allerd­ings reiche der Anspruch auf Restschadenser­satz aus §§ 826, 852 Satz 1 BGB nicht weit­er als der Anspruch auf Schadenser­satz aus § 826 BGB, der grund­sät­zlich der Vorteil­saus­gle­ichung unter­liege. Die Kläger müssten sich deshalb eine Nutzungsentschädi­gung für die von ihnen mit den Fahrzeu­gen gefahre­nen Kilo­me­ter anrech­nen lassen und kön­nten Zahlung nur Zug um Zug gegen Her­aus­gabe der Fahrzeuge verlangen. 

Da die Vorin­stanzen – von ihrem Rechts­stand­punkt aus fol­gerichtig – keine Fest­stel­lun­gen zur Höhe ein­er anzurech­nen­den Nutzungsentschädi­gung getrof­fen haben, hat der VIa. Zivilse­n­at die Sachen zur Klärung der Höhe anzurech­nen­der Vorteile an die Beru­fungs­gerichte zurückverwiesen. 

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