BGH, Beschluss vom 06.07.2023, AZ VIa ZR 335/21, VIa ZR 533/21 und VIa ZR 1031/22

Aus­gabe: 05–06/2023

Der vom Prä­sid­i­um des Bun­des­gericht­shofs vorüberge­hend als Hil­f­sspruchkör­p­er ein­gerichtete VIa. Zivilse­n­at (vgl. Pressemit­teilung Nr. 141/2021 vom 22. Juli 2021) hat am 26. Juni 2023 im Anschluss an die Entschei­dung des Gericht­shofs der Europäis­chen Union (EuGH) vom 21. März 2023 (C‑100/21, NJW 2023, 1111) entsch­ieden, unter welchen Voraus­set­zun­gen Käufer von Die­selfahrzeu­gen in “Die­selver­fahren” den Ersatz eines Dif­feren­zschadens vom Fahrzeugher­steller ver­lan­gen können.

Sachver­halte und bish­eriger Prozessverlauf:

In dem Ver­fahren VIa ZR 335/21 ver­langt der Kläger von der beklagten Volk­swa­gen AG Schadenser­satz wegen eines von ihr hergestell­ten VW Pas­sat All­track 2.0 l TDI, der mit einem Motor der Bau­rei­he EA 288 aus­gerüstet ist. Die EG-Typ­genehmi­gung wurde für die Schad­stof­fk­lasse Euro 6 erteilt. Der Kläger erwarb das im Juli 2016 erst­mals zuge­lassene Fahrzeug am 15. Novem­ber 2017 von einem Händler. Die Abgas­rück­führung erfol­gt bei dem Fahrzeug in Abhängigkeit von der Tem­per­atur (Ther­mofen­ster). Fern­er ist eine Fahrkur­ven­erken­nung instal­liert. Der Kläger ver­langt von der Beklagten im Wesentlichen, ihn im Wege des Schadenser­satzes so zu stellen, als habe er den das Fahrzeug betr­e­f­fend­en Kaufver­trag und einen Finanzierungsver­trag nicht abgeschlossen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Beru­fungs­gericht hat die dage­gen gerichtete Beru­fung des Klägers zurück­gewiesen. Gegen die Zurück­weisung der Beru­fung richtet sich die vom Beru­fungs­gericht zuge­lassene Revi­sion des Klägers.

In dem Ver­fahren VIa ZR 533/21 kaufte der Kläger im Mai 2018 von einem Ver­tragshändler der beklagten Audi AG einen Audi SQ5 All­road 3.0 TDI, der mit einem Motor der Bau­rei­he EA 896Gen2BiT aus­gerüstet ist. Die EG-Typ­genehmi­gung wurde für die Schad­stof­fk­lasse Euro 6 erteilt. Das Kraft­fahrt-Bun­de­samt (KBA) hat­te bere­its vor Abschluss des Kaufver­trags bei ein­er Über­prü­fung des auch in das Fahrzeug des Klägers einge­baut­en Motors eine unzuläs­sige Abschal­tein­rich­tung in Form ein­er soge­nan­nten Aufheizs­trate­gie fest­gestellt und durch Bescheid vom 1. Dezem­ber 2017 nachträgliche Nebenbes­tim­mungen für die der Beklagten erteilte EG-Typ­genehmi­gung ange­ord­net. Der Kläger ver­langt von der Beklagten im Wesentlichen, ihn im Wege des Schadenser­satzes so zu stellen, als habe er den das Fahrzeug betr­e­f­fend­en Kaufver­trag mit dem Ver­tragshändler und einen Finanzierungsver­trag nicht abgeschlossen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Beru­fungs­gericht hat die dage­gen gerichtete Beru­fung des Klägers zurück­gewiesen. Gegen die Zurück­weisung der Beru­fung richtet sich die vom Beru­fungs­gericht zuge­lassene Revi­sion des Klägers, mit der er seine zweitin­stan­zlichen Anträge weiterverfolgt.

In dem Ver­fahren VIa ZR 1031/22 kaufte der Kläger im Okto­ber 2017 von der beklagten Mer­cedes-Benz Group AG einen Mer­cedes-Benz C 220 d, der mit einem Motor der Bau­rei­he OM 651 aus­gerüstet ist. Die EG-Typ­genehmi­gung wurde für die Schad­stof­fk­lasse Euro 6 erteilt. Die Abgas­rück­führung erfol­gt bei dem Fahrzeug unter anderem tem­per­aturges­teuert und wird beim Unter­schre­it­en ein­er Schwellen­tem­per­atur reduziert. Weit­er ver­fügt das Fahrzeug über eine Kühlmit­tel-Soll­tem­per­atur-Regelung, bei der die verzögerte Erwär­mung des Motoröls zu niedrigeren NOx-Emis­sio­nen führt. Der Kläger ver­langt von der Beklagten im Wesentlichen, ihn so zu stellen, als habe er den das Fahrzeug betr­e­f­fend­en Kaufver­trag und einen Finanzierungsver­trag nicht abgeschlossen. Das Landgericht hat der Klage unter dem Gesicht­spunkt ein­er sit­ten­widri­gen vorsät­zlichen Schädi­gung des Klägers über­wiegend stattgegeben. Auf die Beru­fung der Beklagten hat das Beru­fungs­gericht die auf das Recht der uner­laubten Hand­lung gestützte Klage und darüber hin­aus das auf kaufrechtliche Ansprüche gestützte Begehren des Klägers abgewiesen. Mit der vom Beru­fungs­gericht unter Ver­weis auf die Frage, ob die EG-Fahrzeuggenehmi­gungsverord­nung ein Schutzge­setz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB sei, zuge­lasse­nen Revi­sion möchte der Kläger, der nur noch delik­tis­che Ansprüche gel­tend macht, die Wieder­her­stel­lung des erstin­stan­zlichen Urteils erreichen.

Entschei­dung des Bundesgerichtshofs:

Der Bun­des­gericht­shof hat auf die Revi­sio­nen der Kläger die Beru­fung­surteile in allen drei Ver­fahren – in der Sache VIa ZR 1031/22 allerd­ings nicht bezo­gen auf Ansprüche aus Kaufrecht, die nicht mehr Gegen­stand des Revi­sionsver­fahrens waren — aufge­hoben und die Sachen zur neuen Ver­hand­lung und Entschei­dung an die Beru­fungs­gerichte zurück­ver­wiesen, damit die Beru­fungs­gerichte eine Haf­tung der beklagten Fahrzeugher­steller aus uner­laubter Hand­lung weit­er aufk­lären. Dabei hat der Bun­des­gericht­shof im Ver­fahren VIa ZR 335/21 bestätigt, dass die Tatbe­standswirkung der EG-Typ­genehmi­gung einem Anspruch aus §§ 826, 31 BGB gegen den Fahrzeugher­steller nicht ent­ge­genge­hal­ten wer­den kann. Im Ver­fahren VIa ZR 533/21 hat er die höch­strichter­liche Recht­sprechung zu den Voraus­set­zun­gen ein­er haf­tungsauss­chließen­den Ver­hal­tensän­derung des Fahrzeugher­stellers bekräftigt. Außer­dem hat er – aus­führlich begrün­det im Ver­fahren VIa ZR 335/21 – für eine Haf­tung der Fahrzeugher­steller nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des Dif­feren­zschadens im Anschluss an das Urteil des EuGH vom 21. März 2023 (C‑100/21, NJW 2023, 1111) fol­gende Grund­sätze aufgestellt:

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 21. März 2023 aus dem Gesamtzusam­men­hang des union­srechtlichen Regelungs­ge­füges gefol­gert, dass der Käufer beim Erwerb eines Kraft­fahrzeugs, das zur Serie eines genehmigten Typs gehört und mit ein­er Übere­in­stim­mungs­bescheini­gung verse­hen ist, vernün­ftiger­weise erwarten kann, dass die Verord­nung (EG) Nr. 715/2007 und ins­beson­dere deren Art. 5 einge­hal­ten ist. Wird er in diesem Ver­trauen ent­täuscht, kann er von dem Fahrzeugher­steller, der die Übere­in­stim­mungs­bescheini­gung aus­gegeben hat, Schadenser­satz nach Maß­gabe des nationalen Rechts verlangen.

Zu gewähren ist allerd­ings, wenn der Fahrzeugher­steller den Käufer nicht sit­ten­widrig vorsät­zlich geschädigt hat, in Übere­in­stim­mung mit der bish­eri­gen höch­strichter­lichen Recht­sprechung, die zu ändern der Bun­des­gericht­shof keine Ver­an­las­sung hat, nicht großer Schadenser­satz. Der Käufer kann auf der Grund­lage der § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV im Falle der Ent­täuschung seines auf die Richtigkeit der Übere­in­stim­mungs­bescheini­gung gestützten Ver­trauens – anders als bei ein­er sit­ten­widri­gen vorsät­zlichen Schädi­gung durch den Fahrzeugher­steller und auf der Grund­lage der §§ 826, 31 BGB – nicht ver­lan­gen, dass der Fahrzeugher­steller das Fahrzeug übern­immt und den Kauf­preis abzüglich vom Käufer erlangter Vorteile erstat­tet. Ein solch­er Anspruch, der im Kern nicht den Ver­mö­genss­chaden, son­dern die freie Wil­lensentschließung des Käufers schützt, kommt nur bei einem im Sinne von §§ 826, 31 BGB arglisti­gen Ver­hal­ten des Fahrzeugher­stellers in Betra­cht. Für § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV bleibt es bei dem all­ge­meinen Grund­satz, dass ein Schadenser­satzanspruch nach dem maßge­blichen nationalen Recht eine Ver­mö­gens­min­derung durch die ent­täuschte Ver­trauensin­vesti­tion bei Abschluss des Kaufver­trags über das Kraft­fahrzeug voraus­set­zt. Da der EuGH bei der Aus­gestal­tung des Schadenser­satzanspruchs auf das nationale Recht ver­wiesen hat, kon­nte der Bun­des­gericht­shof auf die all­ge­meinen Grund­sätze des deutschen Schaden­srechts zurück­greifen, die auch bei einem fahrläs­si­gen Ver­stoß gegen das europäis­che Abgas­recht einen effek­tiv­en und ver­hält­nis­mäßi­gen Schadenser­satzanspruch gewähren.

Dabei hat­te der Bun­des­gericht­shof davon auszuge­hen, dass die jed­erzeit­ige Ver­füg­barkeit eines Kraft­fahrzeugs Geld­w­ert hat. Deshalb erlei­det der Käufer eines Fahrzeugs, das mit ein­er unzuläs­si­gen Abschal­tein­rich­tung im Sinne des Union­srechts verse­hen ist, stets einen Schaden, weil auf­grund ein­er dro­hen­den Betrieb­s­beschränkung oder Betrieb­sun­ter­sa­gung die Ver­füg­barkeit des Fahrzeugs in Frage ste­ht. Zugun­sten des Käufers greift der Erfahrungssatz, dass er im Falle der Ausstat­tung des Fahrzeugs mit ein­er unzuläs­si­gen Abschal­tein­rich­tung das Fahrzeug nicht zu dem vere­in­barten Preis gekauft hätte.

Das Vorhan­den­sein der Abschal­tein­rich­tung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 der Verord­nung (EG) Nr. 715/2007 als solch­er muss im Prozess der Käufer dar­legen und beweisen, während die aus­nahm­sweise Zuläs­sigkeit ein­er fest­gestell­ten Abschal­tein­rich­tung auf­grund des Regel-Aus­nahme-Ver­hält­niss­es in Art. 5 Abs. 2 der Verord­nung (EG) Nr. 715/2007 der Fahrzeugher­steller dar­legen und beweisen muss.

Stellt der Tatrichter das Vorhan­den­sein ein­er unzuläs­si­gen Abschal­tein­rich­tung fest, muss der Fahrzeugher­steller dar­legen und beweisen, dass er bei der Aus­gabe der Übere­in­stim­mungs­bescheini­gung wed­er vorsät­zlich gehan­delt noch fahrläs­sig verkan­nt hat, dass das Kraft­fahrzeug den union­srechtlichen Vor­gaben nicht entspricht. Beruft sich der Fahrzeugher­steller zu sein­er Ent­las­tung auf einen unver­mei­d­baren Ver­bot­sir­rtum, gel­ten dafür die in der höch­strichter­lichen Recht­sprechung all­ge­mein entwick­el­ten Grund­sätze. Kann sich der Fahrzeugher­steller von jedem Ver­schulden ent­las­ten, haftet er nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht. Das deutsche Recht der uner­laubten Hand­lung set­zt für eine delik­tis­che Haf­tung des Schädi­gers stets ein Ver­schulden voraus. Eine ver­schulden­sun­ab­hängige delik­tis­che Haf­tung kön­nen deutsche Gerichte, die auch nach den Vor­gaben des EuGH im Rah­men des gel­tenden nationalen Rechts zu entschei­den haben, nicht anordnen.

Der dem Käufer zu gewährende Schadenser­satz muss nach den Vor­gaben des EuGH ein­er­seits eine effek­tive Sank­tion für die Ver­let­zung des Union­srechts durch den Fahrzeugher­steller darstellen. Ander­er­seits muss der zu gewährende Schadenser­satz – so die zweite Vor­gabe des EuGH – den Grund­satz der Ver­hält­nis­mäßigkeit wahren. Dem einzel­nen Käufer ist daher stets und ohne, dass das Vorhan­den­sein eines Schadens als solch­es mit­tels eines Sachver­ständi­gengutacht­ens zu klären wäre oder durch ein Sachver­ständi­gengutacht­en in Frage gestellt wer­den kön­nte, ein Schadenser­satz in Höhe von wenig­stens 5% und höch­stens 15% des gezahlten Kauf­preis­es zu gewähren. Inner­halb dieser Band­bre­ite obliegt die genaue Fes­tle­gung dem Tatrichter, der sein Schätzungser­messen ausüben kann, ohne sich vorher sachver­ständig berat­en lassen zu müssen. Auf den vom Tatrichter geschätzten Betrag muss sich der Käufer Vorteile nach Maß­gabe der Grund­sätze anrech­nen lassen, die der Bun­des­gericht­shof für die Vorteil­saus­gle­ichung auf der Grund­lage der Gewähr kleinen Schadenser­satzes nach §§ 826, 31 BGB entwick­elt hat.

Die Kläger wer­den in allen Ver­fahren Gele­gen­heit haben, ihre Anträge anzu­passen, soweit sie einen Dif­feren­zschaden nach diesen Maß­gaben gel­tend machen wollen. Die Parteien haben nach ein­er Zurück­ver­weisung der Sachen Gele­gen­heit, zu den Voraus­set­zun­gen ein­er Haf­tung nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ergänzend vorzutragen.

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