Europäis­ch­er Gericht­shof Lux­em­burg, Beschluss vom 18.10.2022, AZ 169/22

Aus­gabe: 10–2022

Quelle: Pressemit­teilung

Schreibt das nationale Recht für die umzuwan­del­nde Gesellschaft einen getren­nten Wahl­gang für die Wahl der von den Gew­erkschaften vorgeschla­ge­nen Arbeit­nehmervertreter vor, muss eine solche Regelung des Wahlver­fahrens beibehal­ten werden.

Zwei deutsche Gew­erkschaften, die IG Met­all und ver.di, wen­den sich vor den deutschen Gericht­en gegen die Modal­itäten der Bestel­lung der Arbeit­nehmervertreter im Auf­sicht­srat der Europäis­chen Gesellschaft SAP, der par­itätisch aus Mit­gliedern der Anteil­seign­er und der Arbeit­nehmer zusam­menge­set­zt ist.
Die stre­it­i­gen Regelun­gen wur­den zwis­chen SAP und dem im Rah­men der Umwand­lung von SAP – bis dahin eine Aktienge­sellschaft deutschen Rechts – in eine Europäis­che Gesellschaft (SE) dort gebilde­ten beson­deren Verhandlungsgremium1 vere­in­bart. Sie sehen vor, dass bei ein­er Ver­ringerung der Anzahl der Mit­glieder des Auf­sicht­srats der SAP SE von 18 auf 12 die Gew­erkschaften weit­er­hin Kan­di­dat­en für einen Teil der sechs Sitze der Arbeit­nehmervertreter vorschla­gen kön­nen, diese Kan­di­dat­en jedoch nicht mehr in einem von dem der Wahl der übri­gen Arbeit­nehmervertreter getren­nten Wahl­gang gewählt wer­den. Daher ist nicht mehr sichergestellt, dass sich unter den Vertretern der Arbeit­nehmer in diesem Auf­sicht­srat auch tat­säch­lich ein Gew­erkschaftsvertreter befindet.
Das mit dem Rechtsstre­it befasste Bun­de­sar­beits­gericht ist der Ansicht, dass unter Zugrun­dele­gung auss­chließlich des deutschen Rechts dem Antrag der bei­den Gew­erkschaften stattzugeben und die Unwirk­samkeit der stre­it­i­gen Regelun­gen festzustellen wäre. Nach deutschem Recht müssten näm­lich bei der Grün­dung ein­er SE durch Umwand­lung die die Ein­flussnahme der Arbeit­nehmer auf die Beschlussfas­sung der Gesellschaft prä­gen­den Ele­mente eines Ver­fahrens zur Beteili­gung der Arbeit­nehmer in gle­ich­w­er­tigem Umfang erhal­ten bleiben.
Die Anwen­dung eines getren­nten Wahl­gangs für die Wahl der von den Gew­erkschaften vorgeschla­ge­nen Kan­di­dat­en habe ger­ade den Zweck, den Ein­fluss der Arbeit­nehmervertreter auf die Beschlussfas­sung inner­halb eines Unternehmens zu stärken, indem sichergestellt werde, dass zu diesen Vertretern Per­so­n­en gehörten, die über ein hohes Maß an Ver­trautheit mit den Gegeben­heit­en und Bedürfnis­sen des Unternehmens ver­fügten, und gle­ichzeit­ig extern­er Sachver­stand vorhan­den sei.
Das Bun­de­sar­beits­gericht, das Zweifel in Bezug auf die Frage hat, ob die Richtlin­ie 2001/86 zur Ergänzung des Statuts der SE hin­sichtlich der Beteili­gung der Arbeit­nehmer nicht ein – gegebe­nen­falls von allen Mit­glied­staat­en in gle­ichem Maß sicherzustel­len­des – ein­heitlich­es Schutzniveau vorse­he, das geringer sei als nach deutschem Recht, hat den Gericht­shof um Ausle­gung dieser Richtlin­ie ersucht.

Nach deren Wort­laut muss im Falle ein­er durch Umwand­lung gegrün­de­ten SE die für diese SE gel­tende Vere­in­barung über die Beteili­gung der Arbeit­nehmer in Bezug auf alle Kom­po­nen­ten der Arbeit­nehmer­beteili­gung zumin­d­est das gle­iche Aus­maß gewährleis­ten, das in der Gesellschaft beste­ht, die in eine SE umge­wan­delt wer­den soll (Vorher-Nach­her-Prinzip).

Mit seinem heuti­gen Urteil stellt der Gericht­shof fest, dass die für eine durch Umwand­lung geschaf­fene SE gel­tende Vere­in­barung über die Beteili­gung der Arbeit­nehmer für die Wahl der Arbeit­nehmervertreter in den Auf­sicht­srat der SE in Bezug auf die von den Gew­erkschaften vorgeschla­ge­nen Kan­di­dat­en einen getren­nten Wahl­gang vorse­hen muss, sofern das anwend­bare nationale Recht einen solchen getren­nten Wahl­gang in Bezug auf die Zusam­menset­zung des Auf­sicht­srats der Gesellschaft, die in eine SE umge­wan­delt wer­den soll, vorschreibt.
Daher ist im vor­liegen­den Fall für die Beurteilung, ob die Beteili­gungsvere­in­barung eine min­destens gle­ich­w­er­tige Beteili­gung der Arbeit­nehmer an der Beschlussfas­sung inner­halb von SAP nach ihrer Umwand­lung in eine SE gewährleis­tet, das deutsche Recht maßgebend, wie es für diese Gesellschaft vor ihrer Umwand­lung in eine SE galt, ins­beson­dere das deutsche Mitbestimmungsgesetz.
Der Gericht­shof hebt her­vor, dass der Union­s­ge­set­zge­ber der Auf­fas­sung war, dass es angesichts der in den Mit­glied­staat­en beste­hen­den Vielfalt an Regelun­gen und Gepflo­gen­heit­en für die Beteili­gung der Arbeit­nehmervertreter an der Beschlussfas­sung in Gesellschaften nicht rat­sam ist, ein auf die SE anwend­bares ein­heitlich­es europäis­ches Mod­ell der Arbeit­nehmer­beteili­gung vorzusehen.

Somit wollte der Union­s­ge­set­zge­ber die Gefahr auss­chließen, dass die Grün­dung ein­er SE, ins­beson­dere im Wege der Umwand­lung, zu ein­er Ein­schränkung oder sog­ar zur Besei­t­i­gung der Beteili­gungsrechte führt, die die Arbeit­nehmer der Gesellschaft, die in die SE umge­wan­delt wer­den soll, nach den nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflo­gen­heit­en genossen haben.
Der Gericht­shof stellt darüber hin­aus klar, dass das Recht, einen bes­timmten Anteil der Kan­di­dat­en für die Wahlen der Arbeit­nehmervertreter in den Auf­sicht­srats ein­er durch Umwand­lung gegrün­de­ten SE wie der SAP vorzuschla­gen, nicht nur den deutschen Gew­erkschaften vor­be­hal­ten sein darf, son­dern auf alle in der SE, ihren Tochterge­sellschaften und Betrieben vertrete­nen Gew­erkschaften aus­geweit­et wer­den muss, so dass die Gle­ich­heit dieser Gew­erkschaften in Bezug auf dieses Recht gewährleis­tet ist.

Weit­ere Infor­ma­tio­nen: https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/applic…