BGH, Beschluss vom 23.03.2021, AZ VI ZR 889/20

Aus­gabe: 2/3–2021

Der unter anderem für das Recht der uner­laubten Hand­lun­gen zuständi­ge VI. Zivilse­n­at hat sich erst­mals zu der Frage geäußert, ob dem Käufer eines mit einem Diesel­mo­tor der Bau­rei­he EA189 aus­ges­tat­teten Gebraucht­wa­gens, der sein Fahrzeug erst nach Bekan­ntwer­den des soge­nan­nten Diesel­skan­dals gekauft hat, Schadenser­satzansprüche gegen die Volk­swa­gen AG zuste­hen, weil in dem zur Besei­t­i­gung ein­er unzuläs­si­gen Prüf­s­tand­serken­nungssoft­ware entwick­el­ten Soft­ware-Update nach der Behaup­tung des Käufers ein “Ther­mofen­ster” imple­men­tiert ist und das Update neg­a­tive Auswirkun­gen auf den Kraft­stof­fver­brauch und den Ver­schleiß hat. Der Sen­at hat in diesem Fall Schadenser­satzansprüche verneint. 

Sachver­halt:

Der Kläger erwarb am 16. Sep­tem­ber 2016 einen gebraucht­en VW Tiguan 2.0 TDI, der mit einem Diesel­mo­tor des Typs EA189, Schad­stoffnorm Euro 5 aus­ges­tat­tet ist. Die Beklagte ist Her­stel­lerin des Wagens. Der Motor war mit ein­er Soft­ware verse­hen, die erken­nt, ob sich das Fahrzeug auf einem Prüf­s­tand im Test­be­trieb befind­et, und in diesem Fall in einen Stick­ox­id-opti­mierten Modus schal­tet. Es ergaben sich dadurch auf dem Prüf­s­tand gerin­gere Stick­ox­id-Emis­sion­swerte als im nor­malen Fahrbe­trieb. Die Stick­ox­id­gren­zw­erte der Euro 5‑Norm wur­den nur auf dem Prüf­s­tand eingehalten. 

Vor dem Erwerb des Fahrzeugs hat­te die Beklagte in ein­er Ad-hoc-Mit­teilung die Öffentlichkeit über Unregelmäßigkeit­en der Soft­ware bei Diesel­mo­toren vom Typ EA189 informiert und mit­geteilt, dass sie daran arbeite, die Abwe­ichun­gen zwis­chen Prüf­s­tandswerten und realem Fahrbe­trieb mit tech­nis­chen Maß­nah­men zu beseit­i­gen, und dass sie hierzu mit dem Kraft­fahrt-Bun­de­samt (KBA) in Kon­takt ste­he. Das KBA wertete die Pro­gram­mierung als unzuläs­sige Abschal­tein­rich­tung und verpflichtete die Beklagte, die Vorschriftsmäßigkeit der betrof­fe­nen Fahrzeuge durch geeignete Maß­nah­men wieder­herzustellen. In der Folge stellte die Beklagte bei Fahrzeu­gen mit dem betrof­fe­nen Motortyp ein Soft­ware-Update bere­it, das im Dezem­ber 2016 auch bei dem Fahrzeug des Klägers aufge­spielt wurde. 

Der Kläger behauptet, dass mit dem Soft­ware-Update eine neue unzuläs­sige Abschaltvor­rich­tung in Form eines “Ther­mofen­sters” imple­men­tiert wor­den sei. Außer­dem habe das Update neg­a­tive Auswirkun­gen auf den Kraft­stof­fver­brauch und den Ver­schleiß des Fahrzeugs.

Mit sein­er Klage ver­langt der Kläger von der Beklagten im Wesentlichen die Erstat­tung des gezahlten Kauf­preis­es abzüglich ein­er Nutzungsentschädi­gung, Zug um Zug gegen Her­aus­gabe und Übereig­nung des Fahrzeugs. 

Bish­eriger Prozessverlauf: 

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Ober­lan­des­gericht hat die Beru­fung des Klägers zurück­gewiesen und die Revi­sion nicht zuge­lassen. Mit der Nichtzu­las­sungs­beschw­erde will der Kläger die Zulas­sung der Revi­sion erreichen. 

Entschei­dung des Senats: 

Der VI. Zivilse­n­at hat die Nichtzu­las­sungs­beschw­erde des Klägers zurückgewiesen. 

Das Beru­fungs­gericht hat einen Schadenser­satzanspruch aus §§ 826, 31 BGB zu Recht verneint, weil das Ver­hal­ten der Beklagten gegenüber dem Kläger nicht als sit­ten­widrig anzuse­hen ist. Wie der Sen­at bere­its mit Urteil vom 30. Juli 2020 (VI ZR 5/20, Rn. 30 ff.) entsch­ieden hat, ist für die Bew­er­tung eines schädi­gen­den Ver­hal­tens als sit­ten­widrig im Sinne von § 826 BGB in ein­er Gesamtschau dessen Gesamtcharak­ter zu ermit­teln und das gesamte Ver­hal­ten des Schädi­gers bis zum Ein­tritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu leg­en. Dies wird ins­beson­dere dann bedeut­sam, wenn die erste poten­ziell schaden­sursäch­liche Hand­lung und der Ein­tritt des Schadens zeitlich auseinan­der­fall­en und der Schädi­ger sein Ver­hal­ten zwis­chen­zeitlich nach außen erkennbar geän­dert hat. Durch die vom Beru­fungs­gericht fest­gestellte Ver­hal­tensän­derung der Beklagten wur­den wesentliche Ele­mente, die das Unwer­turteil ihres bish­eri­gen Ver­hal­tens gegenüber bish­eri­gen Käufern begrün­de­ten (vgl. hierzu Sen­at­surteil vom 25. Mai 2020 — VI ZR 252/19, Rn. 16 ff.), der­art rel­a­tiviert, dass der Vor­wurf der Sit­ten­widrigkeit bezo­gen auf ihr Gesamtver­hal­ten ger­ade gegenüber dem Kläger nicht mehr gerecht­fer­tigt ist. 

Dies gilt auch, wenn die Behaup­tung des Klägers als zutr­e­f­fend zugrunde gelegt wird, mit dem Soft­ware-Update sei eine neue unzuläs­sige Abschaltvor­rich­tung in Form eines Ther­mofen­sters imple­men­tiert wor­den, die die Abgas­rück­führung bei Außen­tem­per­a­turen unter 15 und über 33 Grad Cel­sius deut­lich reduziere. Der darin liegende — unter­stellte — Geset­zesver­stoß reicht in der gebote­nen Gesamt­be­tra­ch­tung nicht aus, um das Gesamtver­hal­ten der Beklagten als sit­ten­widrig zu qual­i­fizieren. Die App­lika­tion eines solchen Ther­mofen­sters ist nicht mit der Ver­wen­dung der Prüf­s­tand­serken­nungssoft­ware zu ver­gle­ichen, die die Beklagte zunächst zum Ein­satz gebracht hat­te. Während let­ztere unmit­tel­bar auf die arglistige Täuschung der Typ­genehmi­gungs­be­hörde abzielte und ein­er unmit­tel­baren arglisti­gen Täuschung der Fahrzeuger­wer­ber in der Bew­er­tung gle­ich­ste­ht, ist der Ein­satz ein­er tem­per­at­urab­hängi­gen Steuerung des Emis­sion­skon­troll­sys­tems nicht von vorn­here­in durch Arglist geprägt. Sie führt nicht dazu, dass bei erkan­ntem Prüf­s­tands­be­trieb eine ver­stärk­te Abgas­rück­führung aktiviert und der Stick­ox­i­dausstoß gegenüber dem nor­malen Fahrbe­trieb reduziert wird, son­dern arbeit­et in bei­den Fahrsi­t­u­a­tio­nen im Grund­satz in gle­ich­er Weise. 

Bei dieser Sach­lage hätte sich die Ver­w­er­flichkeit des Ver­hal­tens der Beklagten durch die Imple­men­ta­tion des Ther­mofen­sters nur dann fort­ge­set­zt, wenn zu dem — unter­stell­ten — Ver­stoß gegen Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verord­nung 715/2007/EG weit­ere Umstände hinzuträten, die das Ver­hal­ten der für sie han­del­nden Per­so­n­en als beson­ders ver­w­er­flich erscheinen ließen. Dies würde jeden­falls voraus­set­zen, dass diese Per­so­n­en bei der Entwick­lung und/oder Ver­wen­dung der tem­per­at­urab­hängi­gen Steuerung des Emis­sion­skon­troll­sys­tems in dem Bewusst­sein han­del­ten, eine unzuläs­sige Abschal­tein­rich­tung zu ver­wen­den, und den darin liegen­den Geset­zesver­stoß bil­li­gend in Kauf nah­men. Anhalt­spunk­te hier­für waren aber nicht dar­ge­tan. Es war ins­beson­dere nicht dar­ge­tan, dass die Beklagte das KBA im Zusam­men­hang mit der Entwick­lung und Genehmi­gung des Soft­ware-Updates arglistig getäuscht haben könnte. 

Eine abwe­ichende Beurteilung war auch nicht deshalb geboten, weil das von der Beklagten entwick­elte Soft­ware-Update nach der — unter­stell­ten — Behaup­tung des Klägers neg­a­tive Auswirkun­gen auf den Kraft­stof­fver­brauch und den Ver­schleiß der betrof­fe­nen Fahrzeuge hat. Dieser Umstand führt in der gebote­nen Gesamt­be­tra­ch­tung nicht dazu, dass das Gesamtver­hal­ten der Beklagten als sit­ten­widrig zu werten wäre. 

Weit­ere Infor­ma­tio­nen: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/recht…