Bun­de­sar­beits­gericht, Beschluss vom 04.02.2022, AZ 6 AZR 155/21 (A)

Aus­gabe: 01–2022

Der Sech­ste Sen­at des Bun­de­sar­beits­gerichts hat den Gericht­shof der Europäis­chen Union im Rah­men eines Vor­abentschei­dungser­suchens im Zusam­men­hang mit der Frage angerufen*, welche Sank­tion ein Ver­stoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG** nach sich zieht.

Der Beklagte ist Insol­ven­zver­wal­ter in dem am 1. Okto­ber 2019 über das Ver­mö­gen der Insol­ven­zschuld­ner­in eröffneten Insol­ven­zver­fahren. Der Kläger war seit 1981 bei der Insol­ven­zschuld­ner­in beschäftigt.

Am 17. Jan­u­ar 2020 wurde die voll­ständi­ge Ein­stel­lung des Geschäfts­be­triebs der Insol­ven­zschuld­ner­in zum 30. April 2020 beschlossen. In diesem Zusam­men­hang war die Ent­las­sung aller zulet­zt noch 195 beschäftigten Arbeit­nehmer beab­sichtigt. Auf­grund des Stil­l­le­gungs­beschlusses fan­den mit dem bei der Insol­ven­zschuld­ner­in beste­hen­den Betrieb­srat Ver­hand­lun­gen über den Abschluss eines Inter­esse­naus­gle­ichs sowie eines Sozialplans statt. In Verbindung mit dem Inter­esse­naus­gle­ichsver­fahren wurde auch das im Falle ein­er Masse­nent­las­sung erforder­liche Kon­sul­ta­tionsver­fahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG durchge­führt. Ent­ge­gen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, der Art. 2 Abs. 3 Unter­abs. 2 der Richtlin­ie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angle­ichung der Rechtsvorschriften der Mit­glied­staat­en über Masse­nent­las­sun­gen (MERL)*** in nationales Recht umset­zt, wurde jedoch der zuständi­gen Agen­tur für Arbeit keine Abschrift der das Kon­sul­ta­tionsver­fahren ein­lei­t­en­den und an den Betrieb­srat gerichteten Mit­teilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG über­mit­telt. Mit Schreiben vom 23. Jan­u­ar 2020 wurde eine Masse­nent­las­sungsanzeige erstat­tet, deren Ein­gang die Agen­tur für Arbeit am 27. Jan­u­ar 2020 bestätigte. Am 28. Jan­u­ar 2020 erhielt der Kläger die Kündi­gung seines Arbeitsver­hält­niss­es zum 30. April 2020. Noch für den 28./29. Jan­u­ar 2020 beraumte die Agen­tur für Arbeit Beratungs­ge­spräche für 153 Arbeit­nehmer der Insol­ven­zschuld­ner­in an.

Mit sein­er Klage hat der Kläger die Unwirk­samkeit der Kündi­gung vom 28. Jan­u­ar 2020 gel­tend gemacht. Die unter­lassene Über­mit­tlung der an den Betrieb­srat gerichteten Mit­teilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG an die Agen­tur für Arbeit ver­stoße gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, Art. 2 Abs. 3 Unter­abs. 2 der MERL. Diese enthiel­ten nicht nur eine sank­tion­slose Nebenpflicht, son­dern stell­ten eine Wirk­samkeitsvo­raus­set­zung der Kündi­gung dar. Die Über­mit­tlungspflicht solle sich­er­stellen, dass die Agen­tur für Arbeit so früh wie möglich Ken­nt­nis von den bevorste­hen­den Ent­las­sun­gen erhalte, um ihre Ver­mit­tlungs­be­mühun­gen darauf ein­stellen zu kön­nen. Sie habe von daher arbeit­nehmer­schützen­den Charak­ter. Die Vorin­stanzen haben die Klage abgewiesen.

Der Sech­ste Sen­at des Bun­de­sar­beits­gerichts hat mit Beschluss vom heuti­gen Tag den Gericht­shof der Europäis­chen Union nach Art. 267 AEUV ersucht, die Frage zu beant­worten, welchem Zweck die Über­mit­tlungspflicht nach Art. 2 Abs. 3 Unter­abs. 2 der MERL dient. Hier­von hängt nach Auf­fas­sung des Sen­ats ab, ob § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG, der union­srecht­skon­form in gle­ich­er Weise wie Art. 2 Abs. 3 Unter­abs. 2 der MERL auszule­gen ist, eben­so wie andere, den Arbeit­nehmer­schutz – zumin­d­est auch – bezweck­ende Vorschriften im Masse­nent­las­sungsver­fahren als Ver­bots­ge­setz gemäß § 134 BGB anzuse­hen ist. In diesem Fall wäre die Kündi­gung unwirksam.

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