BGH, Beschluss vom 25.07.2022, AZ VII ZR 174/19

Aus­gabe: 06–07/2022Bau­recht

Der Gericht­shof der Europäis­chen Union (EuGH) hat­te in einem von der Europäis­chen Kom­mis­sion betriebe­nen Ver­tragsver­let­zungsver­fahren durch Urteil vom 4. Juli 2019 (C‑377/17) entsch­ieden, dass die Bun­desre­pub­lik Deutsch­land dadurch gegen ihre Verpflich­tun­gen aus Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buch­stabe g und Abs. 3 der Richtlin­ie 2006/123/EG des Europäis­chen Par­la­ments und des Rates vom 12. Dezem­ber 2006 über Dien­stleis­tun­gen im Bin­nen­markt (Dien­stleis­tungsrichtlin­ie) ver­stoßen hat, dass sie verbindliche Hon­o­rare für die Pla­nungsleis­tun­gen von Architek­ten und Inge­nieuren beibehal­ten hat. In der Instanzrecht­sprechung sowie im Schrift­tum war daraufhin ein Mei­n­ungsstre­it darüber ent­standen, ob die betr­e­f­fend­en Vorschriften der Dien­stleis­tungsrichtlin­ie im Rah­men eines laufend­en Gerichtsver­fahrens zwis­chen Pri­vat­per­so­n­en in der Weise unmit­tel­bare Wirkung ent­fal­ten, dass die der Richtlin­ie ent­ge­gen­ste­hen­den nationalen Regelun­gen in § 7 der Verord­nung über die Hon­o­rare für Architek­ten- und Inge­nieurleis­tun­gen (HOAI), wonach die in dieser Hon­o­rarord­nung sta­tu­ierten Min­dest­sätze für Pla­nungs- und Überwachungsleis­tun­gen grund­sät­zlich verbindlich sind und eine die Min­dest­sätze unter­schre­i­t­ende Hon­o­rarvere­in­barung in Verträ­gen mit Architek­ten oder Inge­nieuren unwirk­sam ist, nicht mehr anzuwen­den sind. 

Der unter anderem für Rechtsstre­it­igkeit­en über Architek­ten- und Inge­nieurverträge zuständi­ge VII. Zivilse­n­at des Bun­des­gericht­shofs hat daraufhin in dem Revi­sionsver­fahren VII ZR 174/19, dem die HOAI in der Fas­sung aus dem Jahre 2013 zugrunde liegt, mit Beschluss vom 14. Mai 2020 dem EuGH in einem Vor­abentschei­dungser­suchen nach Art. 267 AEUV mehrere Fra­gen zur Union­srechtswidrigkeit des verbindlichen Preis­rechts der HOAI (2013) vorgelegt (vgl. Pressemit­teilung Nr. 59/2020). Der EuGH hat durch Urteil vom 18. Jan­u­ar 2022 (C‑261/20 — The­len Technopark Berlin) entsch­ieden, dass das Union­srecht dahin auszule­gen ist, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstre­it anhängig ist, in dem sich auss­chließlich Pri­vat­per­so­n­en gegenüber­ste­hen, nicht allein auf­grund des Union­srechts verpflichtet ist, eine nationale Regelung unangewen­det zu lassen, die unter Ver­stoß gegen die in Rede ste­hen­den Bes­tim­mungen der Dien­stleis­tungsrichtlin­ie Min­desthono­rare für die Leis­tun­gen von Architek­ten und Inge­nieuren fest­set­zt und die Unwirk­samkeit von Vere­in­barun­gen vor­sieht, die von dieser Regelung abwe­ichen, jedoch unbeschadet zum einen der Möglichkeit dieses Gerichts, die Anwen­dung der Regelung im Rah­men eines solchen Rechtsstre­its auf­grund des inner­staatlichen Rechts auszuschließen, und zum anderen des Rechts der durch die Unvere­in­barkeit des nationalen Rechts mit dem Union­srecht geschädigten Partei, Ersatz des ihr daraus ent­stande­nen Schadens zu verlangen. 

Der VII. Zivilse­n­at des Bun­des­gericht­shofs hat heute in dem zugrun­deliegen­den Revi­sionsver­fahren VII ZR 174/19 eine abschließende Entschei­dung getroffen. 

Sachver­halt:

Der Kläger, der ein Inge­nieur­büro betreibt, ver­langt von der Beklagten die Zahlung restlich­er Vergü­tung auf­grund eines im Jahre 2016 abgeschlosse­nen Inge­nieurver­trages, in dem die Parteien für die vom Kläger zu erbrin­gen­den Inge­nieurleis­tun­gen bei einem Bau­vorhaben der Beklagten ein Pauschal­hono­rar in Höhe von 55.025 € vere­in­bart hatten. 

Nach­dem der Kläger den Inge­nieurver­trag gekündigt hat­te, rech­nete er im Juli 2017 seine erbracht­en Leis­tun­gen in ein­er Hon­o­rarschlussrech­nung auf Grund­lage der Min­dest­sätze der Verord­nung über die Hon­o­rare für Architek­ten- und Inge­nieurleis­tun­gen (HOAI) in der Fas­sung aus dem Jahr 2013 ab. Mit der Klage hat er eine noch offene Rest­forderung in Höhe von 102.934,59 € brut­to gel­tend gemacht. 

Bish­eriger Prozessverlauf: 

Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 100.108,34 € verurteilt. Auf die Beru­fung der Beklagten hat das Ober­lan­des­gericht die Beklagte zur Zahlung von 96.768,03 € verurteilt. Mit der vom Ober­lan­des­gericht zuge­lasse­nen Revi­sion ver­fol­gt die Beklagte ihren Antrag auf voll­ständi­ge Klage­ab­weisung weiter.
Das Ober­lan­des­gericht hat die Auf­fas­sung vertreten, dem Kläger ste­he ein restlich­er ver­traglich­er Zahlungsanspruch nach den Min­dest­sätzen der HOAI (2013) zu. Die im Inge­nieurver­trag getrof­fene Pauschal­preisvere­in­barung sei wegen Ver­stoßes gegen den Min­dest­preis­charak­ter der HOAI als zwin­gen­des Preis­recht unwirk­sam. Das in einem Ver­tragsver­let­zungsver­fahren gegen die Bun­desre­pub­lik Deutsch­land ergan­gene Urteil des EuGH ändere nichts an der Anwend­barkeit der maßge­blichen Bes­tim­mungen der HOAI zum Mindestpreischarakter. 

Mit sein­er vom Beru­fungs­gericht zuge­lasse­nen Revi­sion hat die Beklagte ihren Antrag auf voll­ständi­ge Klage­ab­weisung weiterverfolgt. 

Entschei­dung des Bundesgerichtshofs: 

Der VII. Zivilse­n­at des Bun­des­gericht­shofs hat die Revi­sion der Beklagten zurück­gewiesen. Das ange­focht­ene Urteil des Beru­fungs­gerichts hat damit Bestand.
Wie der Bun­des­gericht­shof bere­its in seinem Vor­lagebeschluss an den EuGH vom 14. Mai 2020 aus­ge­führt hat, sind nach nationalem Recht die Vorschriften der HOAI, die das verbindliche Preis­recht (hier: die Min­dest­sätze) regeln, unbeschadet des Urteils des Gericht­shofs der Europäis­chen Union vom 4. Juli 2019 (C‑377/17 — Kommission/Deutschland) anzuwen­den und führen zu einem Hon­o­raranspruch des Klägers in der vom Ober­lan­des­gericht zuerkan­nten Höhe. Nach den Fest­stel­lun­gen des Beru­fungs­gerichts ist die zwis­chen den Parteien im Inge­nieurver­trag getrof­fene Pauschal­hono­rarvere­in­barung nach nationalem Recht unwirk­sam, weil sie das sich bei Anwen­dung der Min­dest­sätze ergebende Hon­o­rar unter­schre­it­et, ohne dass ein Aus­nah­me­fall gemäß § 7 Abs. 3 HOAI vor­liegt. Der Kläger kann danach von der Beklagten das Min­dest­satzhono­rar, dessen Berech­nung der Höhe nach nicht ange­grif­f­en ist, abzüglich bere­its geleis­teter Zahlun­gen verlangen. 

Die hierge­gen gerichteten Ein­wände der Beklagten, die sich unter anderem auf einen Ver­stoß des Klägers gegen Treu und Glauben gemäß § 242 BGB berufen hat, greifen nicht durch. Der Bun­des­gericht­shof hat insoweit auf seine Aus­führun­gen im Beschluss vom 14. Mai 2020 (VII ZR 174/19) Bezug genom­men, von denen abzuwe­ichen kein Anlass beste­ht. Ergänzend hierzu hat er in seinem heute verkün­de­ten Urteil darauf hingewiesen, dass die Gel­tend­machung eines Anspruchs durch eine Partei ins­beson­dere nicht deshalb gemäß § 242 BGB als treuwidrig und damit unzuläs­sig bew­ertet wer­den kann, weil die nationale Rechtsvorschrift, aus der der Anspruch hergeleit­et wird, gegen eine Richtlin­ie der Europäis­chen Union ver­stößt. Eine Partei kann sich vielmehr grund­sät­zlich auf eine nationale Rechtsvorschrift berufen, solange diese weit­er­hin gültig und im Ver­hält­nis der Parteien anwend­bar ist. Das von der Recht­sprechung entwick­elte Rechtsin­sti­tut der unzuläs­si­gen Recht­sausübung ist nur dann ein­schlägig, wenn die Anwen­dung ein­er Rechtsvorschrift einen im Einzelfall beste­hen­den Inter­essenkon­flikt aus­nahm­sweise nicht hin­re­ichend zu erfassen ver­mag und für einen Beteiligten ein unzu­mut­bares unbil­liges Ergeb­nis zur Folge hätte. Es dient jedoch nicht dazu, eine vom nationalen Geset­zge­ber mit ein­er Rechtsvorschrift getrof­fene Wer­tung generell durch eine andere Regelung zu ersetzen. 

Eine richtlin­ienkon­forme Ausle­gung des § 7 HOAI unter Berück­sich­ti­gung der im Ver­tragsver­let­zungsver­fahren ergan­genen Entschei­dung des Gericht­shofs der Europäis­chen Union vom 4. Juli 2019 (C‑377/17 — Kommission/Deutschland) führt, wie der Bun­des­gericht­shof eben­falls bere­its mit Beschluss vom 14. Mai 2020 (VII ZR 174/19) im Einzel­nen aus­ge­führt hat, gle­ich­falls nicht zum Erfolg der Revi­sion der Beklagten. § 7 HOAI kann nicht richtlin­ienkon­form dahin aus­gelegt wer­den, dass die Min­dest­sätze der HOAI im Ver­hält­nis zwis­chen Pri­vat­per­so­n­en grund­sät­zlich nicht mehr verbindlich sind und daher ein­er die Min­dest­sätze unter­schre­i­t­en­den Hon­o­rarvere­in­barung nicht entgegenstehen. 

Nach dem nun­mehr im Vor­abentschei­dungsver­fahren ergan­genen Urteil des EuGH vom 18. Jan­u­ar 2022 (C‑261/20 — The­len Technopark Berlin) ste­ht fest, dass der Bun­des­gericht­shof im Stre­it­fall nicht auf­grund Union­srechts verpflichtet ist, das verbindliche Min­dest­satzrecht der HOAI unangewen­det zu lassen. Der EuGH hat insoweit fest­gestellt, dass der Dien­stleis­tungsrichtlin­ie eine unmit­tel­bare Wirkung in einem Rechtsstre­it zwis­chen Pri­vat­per­so­n­en — wie hier — nicht zukommt. Die betr­e­f­fende Richtlin­ie ste­ht der Anwen­dung der verbindlichen Min­dest­sätze daher nicht ent­ge­gen. Der EuGH hat fern­er aus­ge­führt, dass die zuständi­gen nationalen Gerichte nicht allein auf­grund eines im Ver­tragsver­let­zungsver­fahren erlasse­nen Urteils verpflichtet sind, im Rah­men eines Rechtsstre­its zwis­chen Pri­vat­per­so­n­en eine nationale Regelung, die gegen die Bes­tim­mung ein­er Richtlin­ie ver­stößt, unangewen­det zu lassen. 

Europäis­ches Primär­recht in Form der Nieder­las­sungs­frei­heit, der Dien­stleis­tungs­frei­heit oder son­stige all­ge­meine Grund­sätze des Union­srechts ste­hen der Anwen­dung der in der HOAI verbindlich geregel­ten Min­dest­sätze im Stre­it­fall eben­falls nicht ent­ge­gen. Der EuGH hat insoweit klargestellt, dass die Bes­tim­mungen des AEUV über die Nieder­las­sungs­frei­heit, den freien Dien­stleis­tungsverkehr und den freien Kap­i­talverkehr auf einen Sachver­halt, dessen Merk­male nicht über die Gren­zen eines Mit­gliedsstaates hin­ausweisen, grund­sät­zlich keine Anwen­dung find­en. Da der vor­liegende Rechtsstre­it durch Merk­male charak­ter­isiert sei, die sämtlich nicht über die Gren­zen der Bun­desre­pub­lik Deutsch­land hin­auswiesen, könne ohne die Angabe eines Anknüp­fungspunk­tes bezüglich der Vorschriften des Union­srechts betr­e­f­fend die Grund­frei­heit­en durch das vor­legende nationale Gericht nicht davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass das entsprechende Ersuchen um Ausle­gung für die Entschei­dung des Rechtsstre­its erforder­lich sei. Wen­ngle­ich der EuGH die dies­bezügliche Vor­lage­frage des Bun­des­gericht­shofs deshalb als unzuläs­sig beschieden hat, ste­ht danach fest, dass die betr­e­f­fend­en Grund­frei­heit­en oder son­stige all­ge­meine Grund­sätze des Union­srechts der Anwen­dung der in der HOAI verbindlich geregel­ten Min­dest­sätze im Stre­it­fall nicht ent­ge­gen­ste­hen. Über die sich bere­its aus dem Vor­abentschei­dungser­suchen vom 14. Mai 2020 (VII ZR 174/19) ergeben­den Aus­führun­gen hin­aus sind keine Anknüp­fungspunk­te bezüglich der Vorschriften des Union­srechts betr­e­f­fend die Grund­frei­heit­en oder son­stige all­ge­meine Grund­sätze des Union­srechts festzustellen. Ver­an­las­sung für ein erneutes Vor­abentschei­dungser­suchen an den Gericht­shof der Europäis­chen Union beste­ht daher nicht. 

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