BGH, Beschluss vom 07.02.2022, AZ XII ZR 8/21

Aus­gabe: 10/2021 — 01/2022Miet- und WEG-RECHT

Der u.a. für das gewerbliche Mietrecht zuständi­ge XII. Zivilse­n­at des Bun­des­gericht­shofs hat­te die Frage zu entschei­den, ob ein Mieter von gewerblich genutzten Räu­men für die Zeit ein­er behördlich ange­ord­neten Geschäftss­chließung während der COVID-19-Pan­demie zur voll­ständi­gen Zahlung der Miete verpflichtet ist. 

Sachver­halt:

Die Beklagte hat von der Klägerin Räum­lichkeit­en zum Betrieb eines Einzel­han­dels­geschäfts für Tex­tilien aller Art sowie Waren des täglichen Ge- und Ver­brauchs gemietet. Auf­grund des sich im März 2020 in Deutsch­land ver­bre­i­t­en­den SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pan­demie) erließ das Säch­sis­che Staatsmin­is­teri­um für Soziales und Gesellschaftlichen Zusam­men­halt am 18. und am 20. März 2020 All­ge­mein­ver­fü­gun­gen, auf­grund der­er die Beklagte ihr Tex­tileinzel­han­dels­geschäft im Mieto­b­jekt vom 19. März 2020 bis ein­schließlich 19. April 2020 schließen musste. Infolge der behördlich ange­ord­neten Betrieb­ss­chließung entrichtete die Beklagte für den Monat April 2020 keine Miete. 

Bish­eriger Prozessverlauf: 

Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung der Miete für den Monat April 2020 in Höhe von 7.854,00 € verurteilt. Auf die Beru­fung der Beklagten hat das Ober­lan­des­gericht die erstin­stan­zliche Entschei­dung aufge­hoben und die Beklagte — unter Abweisung der Klage im Übri­gen — zur Zahlung von nur 3.720,09 € verurteilt. Infolge des Auftretens der COVID-19-Pan­demie und der staatlichen Schließungsanord­nung auf Grund­lage der All­ge­mein­ver­fü­gun­gen sei eine Störung der Geschäfts­grund­lage des Mietver­trags i.S.v. § 313 Abs. 1 BGB einge­treten, die eine Anpas­sung des Ver­trags dahin gebi­ete, dass die Kalt­mi­ete für die Dauer der ange­ord­neten Schließung auf die Hälfte reduziert werde. 

Entschei­dung des Bundesgerichtshofs: 

Auf die Revi­sio­nen der Klägerin, die nach wie vor die volle Miete ver­langt, und der Beklagten, die ihren Klage­ab­weisungsantrag weit­er­ver­fol­gt, hat der Bun­des­gericht­shof das Urteil des Ober­lan­des­gerichts aufge­hoben und die Sache an dieses zurückverwiesen. 

Der Bun­des­gericht­shof hat entsch­ieden, dass im Fall ein­er Geschäftss­chließung, die auf­grund ein­er hoheitlichen Maß­nahme zur Bekämp­fung der COVID-19-Pan­demie erfol­gt, grund­sät­zlich ein Anspruch des Mieters von gewerblich genutzten Räu­men auf Anpas­sung der Miete wegen Störung der Geschäfts­grund­lage gemäß § 313 Abs. 1 BGB in Betra­cht kommt. 

Die Anwend­barkeit der mietrechtlichen Gewährleis­tungsvorschriften und der Regelun­gen des all­ge­meinen schul­drechtlichen Leis­tungsstörungsrechts, ins­beson­dere des § 313 BGB zum Weg­fall der Geschäfts­grund­lage, ist nicht durch die für die Zeit vom 1. April 2020 bis zum 30. Sep­tem­ber 2022 gel­tende Vorschrift des Art. 240 § 2 EGBGB aus­geschlossen. Der Bun­des­gericht­shof hat entsch­ieden, dass diese Vorschrift nach ihrem ein­deuti­gen Wort­laut und ihrem Geset­zeszweck allein eine Beschränkung des Kündi­gungsrechts des Ver­mi­eters zum Ziel hat und nichts zur Höhe der geschulde­ten Miete aussagt. 

Die auf den All­ge­mein­ver­fü­gun­gen des Säch­sis­chen Staatsmin­is­teri­ums beruhende Betrieb­ss­chließung hat jedoch nicht zu einem Man­gel des Miet­ge­gen­stands i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB geführt, weshalb das Ober­lan­des­gericht zu Recht eine Min­derung der Miete nach § 536 Abs. 1 BGB abgelehnt hat. Ergeben sich auf­grund von geset­zge­berischen Maß­nah­men während eines laufend­en Mietver­hält­niss­es Beein­träch­ti­gun­gen des ver­tragsmäßi­gen Gebrauchs eines gewerblichen Mieto­b­jek­ts, kann dies zwar einen Man­gel i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB begrün­den. Voraus­set­zung hier­für ist jedoch, dass die durch die geset­zge­berische Maß­nahme bewirk­te Gebrauchs­beschränkung unmit­tel­bar mit der konkreten Beschaf­fen­heit, dem Zus­tand oder der Lage des Mieto­b­jek­ts in Zusam­men­hang ste­ht. Die mit der Schließungsanord­nung ver­bun­dene Gebrauchs­beschränkung der Beklagten erfüllt diese Voraus­set­zung nicht. Die behördlich ange­ord­nete Geschäftss­chließung knüpft allein an die Nutzungsart und den sich daraus ergeben­den Pub­likumsverkehr an, der die Gefahr ein­er ver­stärk­ten Ver­bre­itung des SARS-CoV-2-Virus begün­stigt und der aus Grün­den des Infek­tion­ss­chutzes unter­sagt wer­den sollte. Durch die All­ge­mein­ver­fü­gung wird jedoch wed­er der Beklagten die Nutzung der angemieteten Geschäft­sräume im Übri­gen noch der Klägerin tat­säch­lich oder rechtlich die Über­las­sung der Mieträum­lichkeit­en ver­boten. Das Mieto­b­jekt stand daher trotz der Schließungsanord­nung weit­er­hin für den vere­in­barten Miet­zweck zur Ver­fü­gung. Das Vor­liegen eines Man­gels i.S.v. § 536 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt sich auch nicht aus dem im vor­liegen­den Fall vere­in­barten Miet­zweck der Räum­lichkeit­en zur “Nutzung als Verkaufs- und Lager­räume eines Einzel­han­dels­geschäfts für Tex­tilien aller Art, sowie Waren des täglichen Ge- und Ver­brauchs”. Die Beklagte kon­nte nicht davon aus­ge­hen, dass die Klägerin mit der Vere­in­barung des konkreten Miet­zwecks eine unbe­d­ingte Ein­stand­spflicht auch für den Fall ein­er hoheitlich ange­ord­neten Öff­nung­sun­ter­sa­gung im Falle ein­er Pan­demie übernehmen wollte. 

Dem Mieter von gewerblich genutzten Räu­men kann jedoch im Fall ein­er Geschäftss­chließung, die auf­grund ein­er hoheitlichen Maß­nahme zur Bekämp­fung der COVID-19-Pan­demie erfol­gt, grund­sät­zlich ein Anspruch auf Anpas­sung der Miete wegen Störung der Geschäfts­grund­lage gemäß § 313 Abs. 1 BGB zuste­hen. Dies hat das Beru­fungs­gericht im Aus­gangspunkt zutr­e­f­fend erkan­nt; seine Erwä­gun­gen zu ein­er möglichen Ver­tragsan­pas­sung sind jedoch nicht frei von Rechtsfehlern. 

Auf­grund der vielfälti­gen Maß­nah­men zur Bekämp­fung der COVID-19-Pan­demie wie Geschäftss­chließun­gen, Kon­takt- und Zugangs­beschränkun­gen und der damit ver­bun­de­nen mas­siv­en Auswirkun­gen auf das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in Deutsch­land während des ersten Lock­downs im Früh­jahr 2020 ist im vor­liegen­den Fall die soge­nan­nte große Geschäfts­grund­lage betrof­fen. Darunter ver­ste­ht man die Erwartung der ver­tragschließen­den Parteien, dass sich die grundle­gen­den poli­tis­chen, wirtschaftlichen und sozialen Rah­menbe­din­gun­gen eines Ver­trags nicht ändern und die Sozialex­is­tenz nicht erschüt­tert werde. Diese Erwartung der Parteien wurde dadurch schw­er­wiegend gestört, dass die Beklagte auf­grund der zur Bekämp­fung der COVID-19-Pan­demie erlasse­nen All­ge­mein­ver­fü­gun­gen ihr Geschäft­slokal in der Zeit vom 19. März 2020 bis ein­schließlich 19. April 2020 schließen musste. Dafür, dass bei ein­er zur Bekämp­fung der COVID-19-Pan­demie behördlich ange­ord­neten Betrieb­ss­chließung die tat­säch­liche Voraus­set­zung des § 313 Abs. 1 Satz 1 BGB ein­er schw­er­wiegen­den Störung der Geschäfts­grund­lage erfüllt ist, spricht auch die neu geschaf­fene Vorschrift des Art. 240 § 7 EGBGB. Danach wird ver­mutet, dass sich ein Umstand im Sinne des § 313 Abs. 1 BGB, der zur Grund­lage des Mietver­trags gewor­den ist, nach Ver­tragss­chluss schw­er­wiegend verän­dert hat, wenn ver­mi­etete Grund­stücke oder ver­mi­etete Räume, die keine Wohn­räume sind, infolge staatlich­er Maß­nah­men zur Bekämp­fung der COVID-19-Pan­demie für den Betrieb des Mieters nicht oder nur mit erhe­blich­er Ein­schränkung ver­wend­bar sind. 

Allein der Weg­fall der Geschäfts­grund­lage gem. § 313 Abs. 1 BGB berechtigt jedoch noch nicht zu ein­er Ver­tragsan­pas­sung. Vielmehr ver­langt die Vorschrift als weit­ere Voraus­set­zung, dass dem betrof­fe­nen Ver­tragspart­ner unter Berück­sich­ti­gung aller Umstände des Einzelfalls, ins­beson­dere der ver­traglichen oder geset­zlichen Risikoverteilung, das Fes­thal­ten am unverän­derten Ver­trag nicht zuge­mutet wer­den kann. Beruht die ent­täuschte Gewin­ner­wartung des Mieters wie im vor­liegen­den Fall auf ein­er hoheitlichen Maß­nahme zur Bekämp­fung der COVID-19-Pan­demie wie ein­er Betrieb­ss­chließung für einen gewis­sen Zeitraum, geht dies über das gewöhn­liche Ver­wen­dungsrisiko des Mieters hin­aus. Denn die wirtschaftlichen Nachteile, die ein gewerblich­er Mieter auf­grund ein­er pan­demiebe­d­ingten Betrieb­ss­chließung erlit­ten hat, beruhen nicht auf unternehmerischen Entschei­dun­gen oder der ent­täuscht­en Vorstel­lung, in den Mieträu­men ein Geschäft betreiben zu kön­nen, mit dem Gewinne erwirtschaftet wer­den. Sie sind vielmehr Folge der umfan­gre­ichen staatlichen Ein­griffe in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben zur Bekämp­fung der COVID-19-Pan­demie, für die keine der bei­den Mietver­tragsparteien ver­ant­wortlich gemacht wer­den kann. Durch die COVID-19-Pan­demie hat sich let­ztlich ein all­ge­meines Leben­srisiko ver­wirk­licht, das von der mietver­traglichen Risikoverteilung ohne eine entsprechende ver­tragliche Regelung nicht erfasst wird. Das damit ver­bun­dene Risiko kann regelmäßig kein­er Ver­tragspartei allein zugewiesen werden. 

Dies bedeutet aber nicht, dass der Mieter stets eine Anpas­sung der Miete für den Zeitraum der Schließung ver­lan­gen kann. Ob dem Mieter ein Fes­thal­ten an dem unverän­derten Ver­trag unzu­mut­bar ist, bedarf auch in diesem Fall ein­er umfassenden Abwä­gung, bei der sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berück­sichti­gen sind (§ 313 Abs. 1 BGB). Eine pauschale Betra­ch­tungsweise wird den Anforderun­gen an dieses nor­ma­tive Tatbe­standsmerk­mal der Vorschrift nicht gerecht. Deshalb kommt die vom Ober­lan­des­gericht vorgenommene Ver­tragsan­pas­sung dahinge­hend, dass ohne Berück­sich­ti­gung der konkreten Umstände die Miete für den Zeitraum der Geschäftss­chließung grund­sät­zlich um die Hälfte her­abge­set­zt wird, weil das Risiko ein­er pan­demiebe­d­ingten Gebrauchs­beschränkung der Miet­sache keine der bei­den Mietver­tragsparteien allein trifft, nicht in Betra­cht. Es bedarf vielmehr ein­er umfassenden und auf den Einzelfall bezo­ge­nen Abwä­gung, bei der zunächst von Bedeu­tung ist, welche Nachteile dem Mieter durch die Geschäftss­chließung und deren Dauer ent­standen sind. Diese wer­den bei einem gewerblichen Mieter primär in einem konkreten Umsatzrück­gang für die Zeit der Schließung beste­hen, wobei jedoch nur auf das konkrete Mieto­b­jekt und nicht auf einen möglichen Konz­er­num­satz abzustellen ist. Zu berück­sichti­gen kann auch sein, welche Maß­nah­men der Mieter ergrif­f­en hat oder ergreifen kon­nte, um die dro­hen­den Ver­luste während der Geschäftss­chließung zu vermindern. 

Da eine Ver­tragsan­pas­sung nach den Grund­sätzen der Störung der Geschäfts­grund­lage aber nicht zu ein­er Überkom­pen­sierung der ent­stande­nen Ver­luste führen darf, sind bei der Prü­fung der Unzu­mut­barkeit grund­sät­zlich auch die finanziellen Vorteile zu berück­sichti­gen, die der Mieter aus staatlichen Leis­tun­gen zum Aus­gle­ich der pan­demiebe­d­ingten Nachteile erlangt hat. Dabei kön­nen auch Leis­tun­gen ein­er ggf. ein­stand­spflichti­gen Betrieb­sver­sicherung des Mieters zu berück­sichti­gen sein. Staatliche Unter­stützungs­maß­nah­men, die nur auf Basis eines Dar­lehens gewährt wur­den, bleiben hinge­gen bei der gebote­nen Abwä­gung außer Betra­cht, weil der Mieter durch sie keine endgültige Kom­pen­sa­tion der erlit­te­nen Umsatzein­bußen erre­icht. Eine tat­säch­liche Gefährdung der wirtschaftlichen Exis­tenz des Mieters ist nicht erforder­lich. Schließlich sind bei der gebote­nen Abwä­gung auch die Inter­essen des Ver­mi­eters in den Blick zu nehmen. 

Das Ober­lan­des­gericht hat nach der Zurück­ver­weisung nun­mehr zu prüfen, welche konkreten wirtschaftlichen Auswirkun­gen die Geschäftss­chließung in dem stre­it­ge­gen­ständlichen Zeitraum für die Beklagte hat­te und ob diese Nachteile ein Aus­maß erre­icht haben, das eine Anpas­sung des Mietver­trags erforder­lich macht. 

Weit­ere Infor­ma­tio­nen: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/recht…